Infobrief Juli 2023

«Es ist gut, jeden Tag hinter sich zu lassen, wie fliessendes Wasser, frei von Traurigkeit. Das Gestern ist vorbei und seine Geschichte erzählt. Heute wachsen neue Samen.»

Rumi. Sufi-Mystiker aus Afghanistan und einer der wichtigsten persischen Dichter des Mittelalters.

Wenn ich zurückblicke auf die vergangenen vierundzwanzig Jahre, stelle ich jedes Mal fest, dass die Zeit viel zu schnell vergeht. Und wenn ich versuche Bilanz zu ziehen, dann denke ich, dass jeder Tag mehr als 24 Stunden hätte haben sollen, jeder Monat mehr als vier Wochen und jedes Jahr mehr als zwölf Monate, um all das zu bewältigen, was wir hier machen sollten und noch machen möchten. Ja, mehr Zeit haben, das wäre schön, aber sie zu bekommen, ist unmöglich. Was aber möglich ist, ist das Beste aus der uns gegebenen Zeit zu machen. Und wir durften sehr viel machen, und es macht uns dankbar, an all die Menschen zu denken, die wir begleiten durften, uns daran zu erinnern, wieviel Freude und Liebe wir erfahren, aber auch verteilen durften und immer noch dürfen.

SYLVIE UND CARO
Heute möchte ich Ihnen von einem Schicksal erzählen, das mir sehr nahe geht. Sie erinnern sich sicher an unsere Sylvie, die bei uns Kindermädchen war. Unsere Waisen liebten sie, denn sie war eine ruhige, freundliche und zärtliche Ersatzmutter. Als mir bewusstwurde, dass ihr der rechte Arm und das rechte Bein immer weniger gehorchen wollten, brachten wir sie zu einem Neurologen, der schliesslich eine Multiple Sklerose diagnostizierte.

Die Krankheit schritt schnell voran, und es ging nicht lange, da mussten wir Sylvie als Patientin in unserem Hospiz aufnehmen. Jedes Wochenende kam ihre damals noch kleine Tochter Caro, die bei einer Tante lebte, um ihre Mutter zu besuchen. Caro wurde älter, und immer noch kam sie jedes Wochenende und vor allem auch während der Ferien und Feiertage zu uns und kümmerte sich mit sehr viel Liebe um Sylvie. Nachts schmiegte sie sich an sie, und beide schliefen eng umschlungen friedlich ein. Gegen Ende konnte Sylvie nicht einmal mehr sprechen – stattdessen zwinkerte sie mit den Augenlidern: Einmal zwinkern bedeutete «Ja», zweimal zwinkern hiess «Nein». Mit sehr viel Geduld und Ausdauer und einer unglaublichen Liebe kümmerte sich Caro um sie. Gab ihr zu essen, wusch sie, hielt ihre Hand. Sie – noch keine zwanzig Jahre alt – wurde zur Pflegerin ihrer Mutter.

Sylvie wurde schliesslich zur Tetraplegikerin. Sie verbrachte ganze zehn Jahre in unserem Hospiz. Nachdem sie gestorben war, kam Caro, die inzwischen an ihrem Master in Journalismus arbeitete, nach wie vor zu uns. Sie sagte, das Centre L’Espoir sei ihr Zuhause geworden. Wie selbstverständlich ging sie weiter in die Krankenzimmer und kümmerte sich dort um unsere Patientinnen und Patienten und zwar genau so, wie sie es bei ihrer Mutter getan hatte. Inzwischen setzt sie sich auch an das Bett von Sterbenden, um sie auf ihrer letzten Reise zu begleiten. Caro wurde zu einem Teil von uns und hilft uns dabei das zu tun, was am Wichtigsten ist im Leben: sich um Schwache und Kranke zu kümmern. Caro ist ein Segen für uns alle.

Was Nächstenliebe bedeutet, machte sie vollends klar, als sie vor ein paar Wochen damit begann, sich um die sterbende Aude zu kümmern. Aude wurde uns von ihrer Mutter gebracht. Als ich ins Behandlungszimmer trat, kam mir ein schwaches «Bonjour Maman Lotti» entgegen. Erstaunt beugte ich mich über das zarte, kleine Geschöpf und fragte: «Du kennst mich?», «Ja», antwortete sie leise, «ich kenne Sie, seit ich vier Jahre alt war. Damals in Adjouffou haben Sie sich um mich gekümmert. Das war vor zwanzig Jahren.» Ihre Mutter erklärte mir dann, dass wir bei Aude die sogenannte Sichelzellanämie diagnostiziert hatten, eine Erbkrankheit mit einer hohen Sterblichkeit, bei der sich die roten Blutkörperchen sichelförmig verformen. Ich sah mir Aude etwas genauer an und mir wurde klar, dass diese bis auf die Haut abgemagerte, junge, bildhübsche Frau bei uns sterben würde. Ich nahm sie so gut es ging in die Arme, streichelte sie und sagte, dass ich mich sehr glücklich schätze, dass sie mich nach zwanzig Jahren noch erkannt habe, und als wir da so sassen, kam Caro herein, blieb wie versteinert an der Türe stehen und begann zu weinen. «Caro, was ist?», fragte ich sie. Und sie antwortete: «Sie ähnelt so sehr meiner Mutter.» Sie kam näher und ich stellte die beiden einander vor. «Lotti, darf ich mich um Aude kümmern?», wollte Caro dann wissen und sitzt seither stundenlang an Aude’s Bett, wäscht sie, gibt ihr zu essen, beschwichtigt ihre Angst, tröstet sie, so, wie ich es nicht besser könnte.

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Caro, damals 16 Jahre alt, mit ihrer Mutter Sylvie und Caro mit der sterbenden Aude heute

Wir versuchen nicht zu viel zurück, sondern nach vorn zu schauen. Die Menschen brauchen im Hier und Jetzt unsere Unterstützung, unsere Wertschätzung, unseren Respekt. Wir hatten sehr viel Arbeit in den letzten Monaten. Immer wieder kommen Menschen zu uns bei denen klar ist, dass sie bei uns ihren letzten Atemzug machen werden, da sie todkrank sind. Ich möchte Ihnen von einem dieser Menschen erzählen. Von Chantal, schwerkrank. Von ihr höre ich nie auch nur ein Stöhnen, nie auch nur die Frage «Warum ich?». Chantal hat ein so grosses Gottvertrauen, dass sie alles hinnimmt, was auf sie zu kommt, die immensen Schmerzen ebenso wie ihre totale Abhängigkeit von uns Pflegenden. Natürlich unternehmen wir alles, um ihr Leid ein wenig erträglicher zu machen. Oft sitze ich an ihrem Bett und lese ihr aus der Bibel oder einem kleinen Buch mit Gedichten vor. Einmal habe ich sie zu einer Zeit überrascht, als sie nicht mit mir rechnete. Sie «las» in der Bibel, hielt sie aber verkehrt herum. Wir kennen Chantal schon viele Jahre und ich weiss, dass sie sehr gut lesen und schreiben kann. Lachend sagte ich ihr: «Du hältst das Buch verkehrt herum!». Sie erwiderte: «Oh, das habe ich gar nicht bemerkt.» Wie ein Pfeil durchfuhr es mein Herz. Offensichtlich brauchte sie eine Brille, hat uns aber nie etwas davon gesagt und daran gedacht haben wir auch nicht. Sofort rief ich einen Optiker an, erklärte, dass diese Patientin nicht zu ihm kommen könne, und bat ihn, sich zu uns zu bemühen. Und er kam mit seinem Koffer voller Messinstrumente, und ein paar Stunden später hatte Chantal eine Brille und die Bibel wieder richtig in der Hand. Der Optiker schrieb keine Rechnung, er sagte, er wolle etwas Gutes tun! Und Chantal ist glücklich, obwohl sie eigentlich im Sterben liegt. Und mein Herz ist voller Dankbarkeit, immer und immer wieder Zeuge solcher kleiner Wunder sein zu dürfen!

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Die Liebe ist grösser als alles andere

Das Foto wurde am Sonntagmorgen, dem 14. Mai, aufgenommen. Am Nachmittag desselben Tages wollte Chantal unbedingt in einen Rollstuhl sitzen. Ich sagte ihr, dass ein aufrechtsitzen bei ihr zu einem Herzstillstand führen könnte, weil sie so schwach sei. Aber es war nichts zu machen, sie bestand darauf. Wir wussten, es war eine riskante Angelegenheit, also wurde sie von drei Personen vorsichtig hochgehoben und dann in ihren Stuhl gesetzt, von allen Seiten gut mit Kissen und Decken abgestützt. Ich wünschte, Sie hätten sehen können, wie stolz und aufrecht unsere Chantal dasass. Wie eine Königin! Sie drehte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, so richtig majestätisch. Nach fünf Minuten massen wir ihren Blutdruck und ihren Puls und machten ihr klar: «Das geht nicht gut Chantal, wir müssen dich wieder ins Bett zurückbringen.» Aber sie hatte anderes im Sinn: «Bitte noch eine Minute, ich weiss, dass ich mich nie wieder hinsetzen kann!» Wir akzeptierten ihren letzten Wunsch und betteten sie danach wieder hin. Stunden später, am Montag bei Sonnenaufgang schlief sie friedlich ein. Die Vögel erwachten, und wir waren um sie herum im Gebet und Gesang. «Meine schöne Chantal, dein Leben war kein glückliches. Aber du hast uns so viel Glück geschenkt, du hast uns eine schöne Lektion über das Leben, den Mut, das Sein erteilt. Ruhe in Frieden!»

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Und schon die Kleinen kümmern sich umeinander

Liebe Gönnerinnen, liebe Gönner, ich hoffe, es geht Ihnen allen gut und ich danke Ihnen aus ganzem Herzen für Ihre Hilfe, danke für Ihr Vertrauen und danke Ihnen wieder und wieder, dass Sie an uns glauben! Gott segne Sie – ich wünsche Ihnen alles Liebe und Gute.

Mit respektvollen Grüssen
Lotti Latrous