Infobrief Oktober 2022

Grand-Bassam, im Oktober 2022

Liebe Spenderinnen, liebe Spender

Ich freue mich, mir Zeit nehmen zu können und Ihnen diese Zeilen schreiben zu können. Mir ist es wichtig, nicht einfach nur ein paar Zeilen aufs Papier zu bringen, sondern Ihnen möglichst ausführlich von unseren Centres zu berichten und Ihnen dabei immer wieder zu sagen, wie dankbar wir sind, dass Sie Teil unseres Lebens sind.

Besonders hoffe ich, dass es Ihnen gut geht und dass Sie die Hitzewellen des diesjährigen Sommers gut überstanden haben. Bei uns in Grand-Bassam ist es im Juli/August eher kühl, so dass wir – bei 27 Grad! –  fast «frieren». Diese Zeilen schreibe ich an einem Sonntag – ich sitze an meinem Bürotisch und komme eben zurück von meinem Rundgang durch das Centre. Ich liebe den Sonntag, denn es ist der einzige Tag in der Woche, an dem ich sehr viel Zeit aufbringen kann für unsere Kinder, unsere Patienten und die Senioren im Dorf. Das Sozialbüro bleibt zu, und ich kann mich in aller Ruhe dem widmen, was ich am liebsten mache: mich an den Bettrand unserer Patienten setzen, ihnen zuhören – aufmerksam, ohne zu hetzen – mit ihnen sprechen und sie fragen, was sie brauchen. Vor allem diejenigen, die im Sterben liegen. Wir beten, singen, reden, hören Musik. Und die anderen Patienten kommen am Sterbebett vorbei, um sich von ihrem Mitpatienten zu verabschieden, oft setzen sie sich dann dazu. Daraus ergeben sich jeweils wunderbare Gespräche, bei denen alle darüber reden können, was ihnen auf dem Herzen liegt. Ohne Hemmungen, ohne Scham und ohne Tabu. Sie wissen alle, dass ich nicht richte, nicht kritisiere und einfach da bin, um zu helfen und zu lindern. Vor allem den seelischen Schmerz, der oftmals sehr tief ist. Denn an Aids zu leiden, damit zu leben und schlussendlich daran zu sterben, wird in Afrika immer noch sehr stigmatisiert.

Etwas entfernt hören wir an diesen Sonntagen häufig den Gesang christlicher Kirchengänger und den Aufruf zum Gebet der nahestehenden Moschee, und unsere kleine Welt ist in Ordnung. Ich habe oft das Gefühl, dass sie einen Herzschlag lang stillsteht, wenn wir hier erkennen, wie sehr unsere kleine Welt aus Liebe und Verständnis zueinander besteht. Wenn ich das Hospiz jeweils verlasse, verabschiede ich mich von unseren Patienten, und jede und jeder erhält ein Streicheln – und wenn sie mich dann anlächeln, kann ich fühlen, dass sie in Frieden sind.

Mein Weg führt an diesen Sonntagen jeweils auch ins Kinderheim. Auch hier spürt man, dass Sonntag ist. Ein paar Mädchen machen sich gegenseitig wunderschöne Frisuren, die grossen Buben spielen Fussball, und die kleineren spielen UNO oder Eile mit Weile, währenddem die ganz Kleinen herrlich lachend versuchen, hinter dem Büsi und den Hühnern herzurennen. Auch hier ist Frieden und Ruhe, es ist einfach schön. Wenn ich alle diese Kinder sehe, wird mir warm ums Herz. Sie kamen alle todkrank zu uns, waren ausgestossen und verhasst. Bei uns erhalten sie alles, was sie brauchen, so, dass ihre Narben heilen können und sie zurück zu ihrer Kindheit finden. Es stimmt schon, sie haben nicht denselben Komfort wie unsere Kinder in der Schweiz, aber sie erhalten hier etwas, das überlebenswichtig ist und was sie zuvor nie erhalten haben: Liebe. Wenn ich die Mädchen hie und da einmal zu mir einlade, um einen Mittagsschlaf zu machen, und sie sich in der Stube eng aneinander kuscheln, dann weiss ich, dass sie glücklich sind. Wir hören Musik und es wird zuerst mal geplaudert und gelacht, so ein echtes Mädchengetratsche. Wenn sie dann nach etwa einer Stunde eingeschlafen sind, ist es für mich Zeit rauszugehen, um mit meinen Senioren Gymnastik zu machen. Um die Mädchen nicht zu wecken, steige ich sehr leise und so sachte es geht über sie hinweg. Dann erlaube ich mir, sie alle kurz anzuschauen, und ich sehe, wie zufrieden ihr Gesichtsausdruck ist. Unsere Kinder sind unfähig, alleine in einem Zimmer zu schlafen, sie würden verkümmern. Sie brauchen die gegenseitige Nähe und sie brauchen einander. Manchmal erzähle ich ihnen, dass die Kinder bei uns in Europa ein eigenes Zimmer ganz für sich allein haben. Sie können das nicht verstehen und bemitleiden ihre Altersgenossen, weil sie über Nacht allein sind.

2022 09 Foto Mädchen

2022 09 Foto Jungs

Wenn ich also einmal rausgeschlichen bin, helfe ich dem Personal vom Village Ayobâ die Gymnastikgruppe aufzustellen und die Senioren zu holen. Auch sie sind glücklich und dankbar, nicht mehr allein leben zu müssen; irgendwo in einer Blechhütte, falls sie überhaupt ein Dach über dem Kopf hatten, sondern zusammen in einem so schönen Dorf. Wir «turnen» ungefähr 45 Minuten und haben einfach Freude, uns noch bewegen zu können. Auch wenn es mit nur einem Bein oder einem Arm ist, alle machen sie mit. Meistens spielen wir dann noch und oft endet dieser Sonntag mit einem gemeinsamen Abendessen, einem kleinen Bier für Monsieur Gilbert mit seinem Parkinson und einem Glas Wein für Maman Alice, die einseitig gelähmt in ihrem Rollstuhl sitzt. Und auch jetzt darf die Musik nicht fehlen, welche sie alle zu einem kleinen Tanz anspornt – und die, die nicht mehr tanzen können, singen und klatschen mit den Händen. Papa Aziz, wie mein Mann hier genannt wird, ist jeweils auch nicht weit weg und kommt dazu, um anzustossen, bevor er sich wieder um die Blumen und Pflanzen kümmert und seinen herrlichen Pesto aus unserem eigenen Basilikum macht, den wir alle miteinander geniessen. Unsere kleine Welt ist in Ordnung, unsere Centres sind wirklich eine Insel der «Hoffnung», nicht nur dem Namen nach, sondern hier wird in Zufriedenheit und Liebe gelebt. Krieg, Mord, Korruption sind weit, weit weg.

Gymnastik Senioren IMG 5832

Ich möchte Ihnen noch berichten, warum ich unter der Woche nicht so viel Zeit habe für die Kinder, die Patienten und die Senioren. Der Grund ist mein Sozialbüro, wo ich hinter meinem Pult sitzend Stunden verbringe. Im Moment schulen wir gerade weit über 800 Kinder ein, was eine immense Arbeit ist. Die Mütter, deren Kinder in die Schule dürfen, müssen mit den Schuldokumenten und den Noten der Kinder vorbeikommen. Es handelt sich dabei um die 420 Mütter, die in unserem Programm sind und welchen wir bei der Bezahlung ihres Mietzinses für ihre kleinen Hütten (ja, auch im Slum muss man Miete bezahlen!) helfen und Nahrungshilfe geben. Auch diese Unterstützung erfordert viel Büroarbeit. Dazu kommen all die Menschen, die krank sind und eine Behandlung und Medikamente brauchen, die Eltern, die mit ihren unterernährten Kindern vorbeikommen, und sie alle haben ein Recht auf unser Gehör und unsere Hilfe. Ich sehe tagtäglich bis zu 200 Menschen in meinem Büro. Früher habe ich mich am Feierabend jeweils noch gefragt, warum ich am Abend derart ausgelaugt war. Heute weiss ich, dass ich nach dem letzten Patienten eine halbe Stunde Pause brauche, bevor ich zu den Kindern, den stationären Patienten und den Senioren gehe. Manchmal bin ich danach so müde, dass ich meinen eigenen Namen vergesse. Und wenn ich nach einem solchen Arbeitstag, der von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends dauert – manchmal, wenn ich noch Buchhaltung machen muss, auch bis 21 Uhr – zu Bett gehe, brauche ich zum Einschlafen niemanden mehr, der mir ein Wiegenlied singt.

Seit dreiundzwanzig Jahren darf ich diese Arbeit machen, und noch immer erfüllt sie mich Tag für Tag. Ich bin dankbar, dass ich das tun darf, die Kraft dafür habe, auch nach dem «ordentlichen» Pensionsalter. Und ich bin Ihnen, liebe Gönnerinnen, liebe Gönner, sehr dankbar für diese Zeit, denn Sie sind es, die alles ermöglicht haben, Sie sind es, die uns seit jeher unterstützen. Uns dabei helfen, Menschen zu retten, ihnen die Würde zurückzugeben, ihnen in ihrer Verzweiflung zurückzugeben, ihren Hunger zu stillen.

Ich danke Ihnen, aber auch meinem Mann Aziz, den hier alle Papa Aziz nennen, meiner Kollegin Marie Odile, die mich seit Jahrzehnten unterstützt, und unserem Personal für Ihre Hilfe. Viele unserer Mitarbeitenden könnten auch in ihre verdiente Rente gehen, nachdem sie teilweise über zwanzig Jahre mit uns gearbeitet haben, aber sie bleiben hier und helfen weiter. Ich danke auch all den Freiwilligen, die immer und immer wieder vorbeikommen, den Stiftungsräten und Valérie Keller, unserer Geschäftsführerin. Sie alle helfen, diese Welt, diese kleine Welt besser zu machen.

Von Herzen

Lotti Latrous

Und zum Schluss noch die sehr fröhliche Nachricht: Aziz und ich wurden zum dritten Mal Grosseltern. Elsie, die Tochter unserer Sarah und unserem Schwiegersohn Rik, ist am Karfreitag dieses Jahres zur Welt gekommen.

Elsie et ses grands parents